Was liegen bleibt

von Doris Wirth

Sie musste lachen, als sie das las: „Ohne Altlasten bitte“. Nein, mein Herr, fürchten Sie sich nicht, dachte sie. Natürlich alles bestens aufgeräumt. Alles reinlich und verstaut. Wo konnte man das zurückbringen? Gab es eine Sammelstelle? Entsorgungsgebühr im Voraus bezahlt, einmal retour bitte? Oder vielleicht besser dahin, wo man es her hat? „Mit bestem Gruss zurück an den Absender“? Und wenn es den Absender gar nicht mehr gab, so, wie er damals war? Und wenn der Absender gar nichts davon wissen wollte, dass er sich einmal eingeschlichen hatte in die kleine Seele, seinen ganzen Müll liegen gelassen hatte und dann wieder abgerauscht war? Wenn der Absender sagte: „Mit mir hat das nichts zu tun“? Und wenn es ja wirklich kein Müll gewesen war, zu Beginn, sondern nur ein Versehen, etwas Unabsichtliches, von allen Seiten unbemerkt da hin Gefallenes? Und wenn erst ihre inneren Säfte das Ganze so verunstaltet und zu einem faulenden, stinkenden Stück Müll gemacht hatten? Ohne Altlasten. Lisa kicherte und schlug die Zeitschrift zu.
Die Züge fuhren vor ihrem Fenster vorbei. Sie streckte sich auf dem Sofa aus und fuhr über ihren spitzen Hüftknochen. Kam nicht täglich Neues rein? Und konnte man denn entscheiden, was liegen blieb und was sofort wieder ausgeschieden wurde?
Lisa stellte sich eine öde, braune Landschaft vor. Auf dem Boden lagen Erinnerungsbruchstücke. Verletzungen. Lagen da und rotteten still vor sich hin. Und in Erdlöcher hausten Menschen oder eher verzerrte Abbilder von Menschen, von gehassten, von geliebten, von gefürchteten Menschen.
Alles sehr lange her eigentlich. Lisa rieb sich die Augen. Sie fühlte sich schwer und müde. Sie wollte nicht darüber nachdenken. Sie konnte sich schön kleiden, sie konnte lachen, sie konnte Kaffee trinken, Sport treiben, plaudern, tanzen und schön sein. Sie konnte es leicht nehmen, wie man so sagte. Sie hatte eine Falltür, und die war zu. War dicht, kaum ein Lärm zu hören, nur selten ein Geruch der Fäulnis, den sie hinter ihren Lippen zurück behielt. Die Grube unter der Falltür, der Hohlraum, ging niemanden etwas an. Lisa wollte selbst lieber nicht zuviel davon wissen. „Möchten sie mit in meine Grube kommen?“ dachte sie. Ich mache Ihnen eine schöne Führung. Vorsicht, klemmen Sie die Nasenklammer an. Es stinkt hier unten. Vorsicht, treten sie nicht in die Sätze meines Bruders rein. Lassen Sie sie einfach da liegen und kommen Sie weiter. Das schöne blonde Kind auf dem Abfallberg? Sie wundern sich, warum sein Haar so glänzt, warum Triumph in seinen blauen Augen flackert? Ich weiss es nicht, es lässt sich nicht beseitigen. Ich habe schon viele meiner Ritter ins Schlachtfeld geschickt, auf dass sie das Kind töten oder wenigstens aus meinem Graben rauswerfen. Es lässt sich nicht vertreiben. Es steht da, stolz und aufrecht und lacht höhnisch, wenn ich mal wieder hinfalle. Es zeigt auf meinen Müll und sagt: schämst du dich nicht. Und wenn ich meine Freundin sehe, Sie müssen wissen, ich habe eine wunderschöne Freundin, genauso blond wie dieses Kind, und wenn ich mich festsauge an ihren leuchtenden Augen, und wenn sogar die Sonne sich nur ihr Haar auswählt, um darauf zu tanzen, dann hüpft das Kind und lacht mich aus und zeigt auf meinen schlammverschmierten Körper. Wollen wir weiter? Da hinten, weit hinten am Horizont, sie sehen die gelben Hügel, da liegt der Leib meiner Mutter. Weich und riesig liegt er da, der Bauch quillt über das Geröll und die Brüste ruhen satt und schwer auf dem Kies. Ich würde da nicht näher hin. Ich schäme mich, dass meine Mutter so offen und roh da liegt. Ich glaube auch, sie schluckt, was ihr zu nahe kommt. Von Tag zu Tag wird ihr Leib voller und die gelben Hügel ragen weiter ins Gelände hinein. Dieses metallene Gestell, wo Sie die hässlichen Kinder rumklettern sehen? Das ist die Brille meines Vaters. Die Ränder sind schon mit Moos bewachsen, die Gläser milchig und verstaubt. Aber sehen Sie ruhig hindurch, sie erfüllen ihren Zweck. Sie zeigen die atomare Struktur aller hier herum liegenden Erzeugnisse auf. Toll, nicht wahr? Man kann dann sehr gescheit über sie reden. Kommen Sie, es wird Zeit, zu gehen. Ich möchte uns unangenehme Überraschungen ersparen. Halten sie sich fest an der Leiter. So. Falltür zu. Putzen Sie sich die Schuhe an der Matte ab. Vielen Dank. Sollten Sie noch Fragen haben, Sie wissen, wo Sie mich erreichen.
Lisa schnaubte. Das Sofa wurde ihr zu weich, die Luft war so schwer. Sie öffnete das Fenster und lauschte, wie der nächste Zug nahte. Sie würde ihren Bikini anziehen, den neuen, leuchtenden, und schwimmen gehen. Sie würde langsam in den noch kalten See waten und spüren, wie das Wasser ihren Körper belebte. Sie würde spüren, wie sie leicht wurde, wie das Wasser sie trug. Sie würde im Wasser auf dem Rücken liegen, leicht sein und nur den Himmel und die weissen Wolken sehen.




dein feedback zum text (direkt an die/den autorIn):
name
e-mail

Leserbrief im Forum schreiben...


zurück zur Übersicht

Geschichten
Ausflüge
Hinter den Schienen endlose Weite
Neuschnee
Vor der Reise
Was liegen bleibt
die gastgeberin

Gedichte

story.ch mithilfe von google.com ganz einfach durchsuchen...


story.ch Newsletter

E-Mail

... und hier das Archiv der Newsletter zum Ansehen.

(Der story.ch Newsletter kann jederzeit abbestellt werden - mit dem angemeldeten Absender eine E-Mail senden.)


story.ch präsentiert: Mein|Eid, das neueste Büchlein von Patrick Armbruster. Für nur noch 7 Franken!


story.ch ist die Plattform für elektronische Verbreitung literarischer Werke junger AutorInnen. Die Themen reichen von Alltagsgrau, urbanem Leben über Liebe, Leidenschaft, Erotik bis hin zu fantastischen Märchen.

©1997-2009 by Patrick Armbruster & story.ch, die grösste Schweizer Online-Literaturplattform